Ein Leben für den Animationsfilm – Nachruf auf Günter Rätz
Mit Bestürzung haben wir vom Tod des renommierten Puppenspielers und Animationsfilmers Günter Rätz erfahren. Am 1. Mai 2024 ist er verstorben – vier Wochen vor seinem 89. Geburtstag. Vielen Filmfreunden ist er vor allem als Schöpfer von DEFA-Klassikern wie Die Weihnachtsgans Auguste, Teddy Brumm oder Die fliegende Windmühle bekannt. Der gebürtige Berliner und gelernte Maurer gehörte zu den Gründungsvätern des DEFA-Studios für Trickfilme Dresden und wirkte an mehr als 100 Filmen mit. Als Animator, Drehbuchautor und Regisseur war er stets darauf bedacht, die vielfältigen Möglichkeiten des Trickfilms zu erweitern.
Mit einem ANIMANIA-Filmabend am Freitag, dem 20. September 2024, erinnert das DIAF an den Meister des DEFA-Puppentricks.
Für Günter Rätz
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als Günter Rätz mich sehr seltsam ansah und ihm fast der Kiefer herunterklappte, als ich ihm in einem unserer vielen Gespräche widersprach oder zumindest ergänzte. Das war irgendwann 2019 oder 2020, nachdem Ralf Schenk die Sache mit dem Buch in die Wege geleitet hatte. Einen Band über den namhaften Trickfilmregisseur wollte er gern, der damalige Chef der DEFA-Stiftung, für deren Schriftenreihe, endlich mal etwas zum Animationsfilm, am besten in Gesprächsform. Günter Rätz hatte ich bis dato noch nicht persönlich kennengelernt und mich eigentlich mit ihm auch noch nie direkt beschäftigt. Obwohl ich mich schon recht gut im frühen Puppentrickfilm der DDR auskannte – sowohl, was das DEFA-Trickfilmstudio anbelangte, aber auch in der Animationsfilmgeschichte des DDR-Fernsehens war ich bewandert, Stichworte Sandmännchen, frühe Werbefilme, Unterhaltungs-Animationen.
Anfänge als Puppenspieler
Dann also die ersten Gesprächsrunden mit Günter, Aufnahmegerät eingerichtet und eingeschaltet, los ging’s. Zunächst berichtete er über seine Kindheit – die in weiten Teilen eine Kriegskindheit voller Schrecken war – und seine Maurer-Lehrjahre, das wollte auch Ralf von Beginn an: ausführlich und detailreich. Dann erzählte Günter von seinen ersten Puppenspielerjahren im Ost-Berliner „Haus der Kinder“ bei Inge Borde, voller Anekdoten und Erlebnisse. Als es schließlich um seine ersten Filme als junger Puppenführer noch in Babelsberg bei Johannes Hempel ging, konnte ich schon etwas mehr mitreden …
Den Umzug nach Dresden 1955 und die Arbeit im neuen DEFA-Studio für Trickfilme begriff er, der gebürtige Berliner, als Chance seines Lebens. Er lernte die Elbestadt lieben, hier blieb er für sein ganzes weiteres Leben, und hier entstanden ausnahmslos alle seine Werke, die er zunächst noch als Animator, aber schon recht bald als Regisseur mit auf die Welt brachte. Die meisten für Kinder, für die er stets einen großen Teil seines Herzens reservierte.
In unseren gemeinsamen Gesprächen hatte ich mich wie stets bei solchen Gelegenheiten gut vorbereitet – kannte seine Filme, las Kritiken und wälzte Archivakten, soweit welche da waren. Bei seinem Erstling Teddy Brumm (1958) stritten wir uns schon viel darüber, ob dies eine Gegenwartsgeschichte für Kinder oder ein Märchen sei, während er mir bei Gleich links hinterm Mond (1959) genau den etwas verschachtelten Plot erklärte und auch verriet, wie sie es im Drehstab mit dem Antrieb der Rakete bewerkstelligt hatten. Hier verdiente der spätere Regisseur Jörg Herrmann seine ersten Sporen als Puppenführer.
Schließlich schwärmte Günter vom Draht, den er für seine Puppengestelle entdeckte – kein Bleidraht wie bei Hempels Schiltbürger-Film (1961) und auch kein ausgeglühter Kupferdraht, wie ihn anfangs Gerhard Behrendt und Peter Blümel in Berlin im „Deutschen Fernsehfunk“ benutzten, nein, es war gut biegsamer Aluminiumdraht aus der Elektrotechnik, der nun für seine „Drahtmännchen“ herhielt. Anfangs ließ er die Figuren noch abstrakt „nackt“, später zog er sie nach und nach an und erzielte damit einen Erfolg nach dem anderen.
Und er experimentierte dennoch weiter – mit anderen Materialien, mit anderen Techniken. Als er den Flachfigurentrick ausprobierte und mit dieser Technik die Geschichte „Mister Twister“ des jüdisch-russischen Autors Samuil Marschak erzählte, erlitt er ein Fiasko: Das war 1962, der Film wurde vom Stellvertretenden Kulturminister aus fadenscheinigen Gründen rigoros verboten. Obwohl die Akten eine eindeutige Sprache redeten, bestritt Günter vehement diesen Akt. Nein, er habe den Film abgebrochen, weil ein sowjetischer Regisseur das Buch in Puppentrick und viel besser inszeniert habe. Ich widersprach und zeigte ihm Kopien der Dokumente – er aber wurde richtig böse und beharrte auf seiner Version. Verdrängung? Gedächtnislücke ? – Ich habe es nie erfahren. Er, der sich in all seinen Filmen an jeden Kameramann, jeden Gestalter und jeden Puppenführer auf Anhieb erinnern konnte, hatte eine offenkundige, wenn auch bittere Wahrheit vergessen?! Schließlich einigten wir uns auf eine Variante, die wir im Buch erzählen konnten und setzten unsere Zusammenarbeit fort. Denn die schien fast ihr Ende gefunden zu haben …
Persönliche Erinnerungen und Informationen aus Akten ergänzen sich
Unsere Diskussionen über viele seiner Filme gingen schließlich weiter, wurden von mir aufgezeichnet und wenig später in Textform gebracht; sehr oft konfrontierte ich ihn mit Fakten, die ich in den Akten gelesen hatte und die er nicht kannte: Hintergrundinformationen, oftmals in damaligen obersten Leitungsetagen verhandelt, wohin er als blutjunger Animator und Regisseur keinen Zugang hatte. So bei Nobi, der bei Autor Ludwig Renn noch „Neger Nobi“ hieß, ein mit Western-Elementen gespickter Puppentrickfilm über die Kolonialzeit, bei dem Günter mir von Querelen wegen der Musik berichtete und ich mit Informationen aus höchsten DDR-Kreisen gegenhalten konnte, wonach der Film bei in der DDR lebenden Afrikanern nicht gut ankam und deshalb für den Export gesperrt wurde.
Günter experimentierte dennoch weiter – beispielsweise mit einer kühnen Verknüpfung von Drahtfiguren-Animation, Zeichentrick und Silhouettenfilm in Das kleine Tirili (1964), mit Sachanimationen und Collagen in dem durchaus – im besten Sinne – als politisch anzusehenden Werk Feine Spielwaren – Made in USA (1969), mit der weltberühmt gewordenen Methode seines tschechischen Freundes Karel Zeman, Realaufnahmen, historische Dokumente und Animationen auf der Leinwand zusammenzuführen wie in der Hommage auf die Pariser Kommune Auf den Barrikaden von Paris (1970) oder mit der Nutzung von Holzfiguren und -kulissen in einer Ästhetik à la Lyonel Feininger in Das Zauberwort (1974).
Fulminant und nahezu respektlos ging er mit dem weltbekannten Musikmärchen Peter und der Wolf (1973) des russischen Komponisten Sergej Prokofjew um, dessen Partitur er gemeinsam mit dem Musikdramaturgen Addy Kurth auf eine spannende kleine Filmhandlung komprimierte und für das das Künstlerehepaar Irmhild und Hilmar Proft bezaubernd-extravagante Figuren und der Kameramann Rolf Hofmann nicht minder exzellente Bilder schuf. Notabene wurde der viertelstündige Film nebst Thesis zur Abschlussarbeit seiner Diplomgraduierung, die er im Fernstudium an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg (HFF) absolvierte.
Reduzierte Animation und traditioneller Puppentrick
Mit ganzem Stolz erklärte mir Günter die reduzierte Animation in der Georg-Weerth-Umsetzung Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski (1977), für die der Künstler Gerd Mackensen mehr als 5.000 Zeichnungen angefertigt hatte und welche damals trotz ihrer etwas sperrigen Bildsprache ein ziemlich positives öffentliches Echo hervorrief. Ganz im traditionellen Puppentrick hingegen ausgeführt war die erstmals animierte Verfilmung der in der DDR enorm populären Friedrich-Wolf-Erzählung Die Weihnachtsgans Auguste (1981), in deren Entree Günter listig eine kleine „Lohengrin“-Parodie hineinschmuggelte.
Lang, länger, abendfüllend
Lange debattierten wir darüber, ob sein mit Schwung und Schlagern für Kinder durchsetztes Filmmusical Die Leuchtturminsel (1976) – fast ein Langmetragefilm – nach Fertigstellung tatsächlich in den Kinos der DDR gezeigt werden durfte. Komponist und Bandleader Uve Schikora war gerade in den Westen verduftet – und „Republikflucht“ von Künstlern versuchte die Obrigkeit im Osten Deutschlands seinerzeit gewöhnlich mit Totschweigen zu bestrafen. Sei’s wie es sei, nach der „Wende“ erreichte der Film „Kultstatus“ … Fast magisch zog es Günter indes zum „Langen Film“, einem Traum, den er sich schließlich mit der Science-Fiction-Parodie und „Kleine Prinz“-Referenz Die fliegende Windmühle (1981) erfüllen durfte. Geduldig erklärte er mir viele Tricks und Täuschungen, die er im Film anwandte, und lachte sich noch immer scheckig über die Anglizismen, die er in die Dialoge – die er nun selbst verfasst hatte – einbaute.
Leider blieb seinem nächsten und letzten abendfüllenden Film Die Spur führt zum Silbersee (1989) der große Erfolg versagt. Das lag nicht nur an den Wendewirren und am Niedergang des Studios, in die der Kinostart der Karl-May-Verfilmung „hineinschlidderte“. Viele Kolleginnen und Kollegen wie auch Kritikerinnen und Kritiker äußerten sich abfällig über das angeblich banal-triviale Genre, dem der namhafte Regisseur und Nationalpreisträger nun verfallen sei. Ihn machten diese Vorwürfe ziemlich mürbe, und mehrmals beteuerte er in unserem Gesprächen, dass er – der die filmische Spezies Western so sehr liebte – einen solchen für Kinder drehen wollte, den sich viele von ihnen gewünscht hätten, nicht mehr und nicht weniger. Die Fertigstellung des Karl-May-„Sequels“ Der Geist des Llano Estacado (begonnen 1990) blieb ihm durch die institutionelle Zerstörung des DEFA-Studios für Trickfilme in Dresden 1990–92 versagt.
Ausbilder und Mentor für Animatoren-Nachwuchs
Zu Beginn der 1980er bemerkte nicht nur ein langsam in die Jahre kommender Günter Rätz, dass dem Studio der Nachwuchs ausging und widersetzte sich der Überalterung vor allem der kreativen Leute im Studio. Eine Ausbildung für Animationsfilmer gab es damals in der DDR noch nicht, und so stellte er in kürzester Zeit gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Studio und der HFF in Babelsberg einen Lehrgang für Animatoren mit Lehrmaterial und Lehrbuch auf die Beine, der im Puppen- und Flachfigurentrick letztlich für die sechs jungen Leute Elke Bräuniger, Angela Klemm, André Schmidt, Thomas Stephan, Hans-Joachim Witt und Sibille Zumpe in je einen fertigen, für den Kinoeinsatz planbaren Film mündete. Alle arbeiteten danach professionell an diversen Trickfilmproduktionen weiter, während die Animationsfilmausbildung in Babelsberg ihre Fortsetzung fand und an der dortigen Filmuniversität „Konrad Wolf“ im Prinzip noch heute besteht.
Mit der Schließung des Studios verlor auch ein Günter Rätz seine Arbeit. Eigene kleine Computer-Produktionen von ihm als Regisseur blieben in einem eher bescheidenen Rahmen. Er arbeitete für Hylas-Trickfilm Dresden als Animator in zwei Puppentrickfilmen mit: Von der Fee, die Feuer speien konnte (1992) und Das Märchen von der Prinzessin Turandot (2016). Für die vormalig Westberliner Filmproduktion Manfred Durniok und deren Koproduzenten, das Shanghai Animation Film Studio, schrieb er zwischen 1996 und 2005 an den Drehbüchern für insgesamt fünf Jules-Verne-Umsetzungen in Puppentrick mit. Großen Spaß indes bereitete ihm immer wieder das Handpuppenspiel, das er in Dresden an verschiedenen Orten und meistens mit Kindern betrieb. Und mit Kindern übte er sich auch viel und lange in medienpädagogischen Projekten und in der Herstellung kleiner Animations-Videofilme vor allem unter dem Dach des „Vereins zur Förderung gewaltfreier Medien“ e.V. Dresden.
Von all diesen Filmen und Geschehnissen erzählte mir Günter lange und ausführlich, ich recherchierte nebenher in Akten und Dokumenten. Unsere Gespräche zogen sich insgesamt über drei, vier Jahre. In der Zeit der eskalierenden Corona-Ereignisse wurde es mir um ihn, den mittlerweile 85-jährigen mit chronischer Krankheit und damit besonders Gefährdeten, etwas bange. Ende 2020 dann das Befürchtete: Günter war vom tückischen Virus befallen und lag im Krankenhaus. Nach dem, was man damals so hörte – keine Chance. Ich harrte über den Jahreswechsel aus – dann ein Anruf aus Dresden mit einer mir unbekannten Nummer. Ich ahnte das Schlimmste. Am Ende der Leitung Günter schließlich höchstselbst mit brüchiger Stimme: „Herr Petzold, wann machen wir denn mit unserem Buch weiter?“
Wir haben es erfolgreich bis zu Ende gebracht. Vor etwa einem halben Jahr hatte Günter mir das „Du“ angeboten – ich habe, ehrlich gesagt, wirklich etwas darauf gewartet und mich sehr darüber gefreut. Leider hatten wir seitdem kaum noch Gelegenheit, das „Duzen“ im Gespräch zu „üben“. Auch darüber bin ich natürlich sehr, sehr traurig …
Volker Petzold